Leseprobe

Christian wird jeden Moment mit dem Auto vorfahren und ich bin lieber pünktlich und zuverlässig. Mit einer innigen Umarmung verabschiede ich mich von Carlos, die er gar nicht mehr lösen mag. Ich küsse ihn bestätigend auf die Schnute und entwende mich lächelnd seinem Griff. Mir wird erst im Auto bewusst, dass ich freiwillig zurück in die Höhle der Löwen fahre und hoffe, nicht großartig an Gesprächen teilnehmen zu müssen. Den ganzen Abend hefte ich mich an Christian und stoße nur hin und wieder Fragen in den Raum. Ein Mitglied erzählt, dass sich der Verdacht auf ein zweites Objekt leider nicht bestätigt hat. Andere Länder werden aufgrund der fehlenden Beweise unruhig oder haben die Spenden eingestellt. Herr Biel lässt sich kaum sehen und allgemein sind heute wenige Anhänger vertreten. Aria wird kurz vor Schluss in der grässlichen Glasbox vorgeführt und von allen Seiten beglotzt. Sie liegt eingerollt in einer Ecke, aber ihrem Blick entgeht nichts. Ich nicke ihr kurz zu, um ihr meine Anwesenheit zu signalisieren, da wird sie schon wieder abtransportiert. Unter den Gästen wird getuschelt, sie sei doch nur ein normaler Hund und dass Herrn Biels Euphorie nicht lange anhält. Christian steht hinter ihm und betont vehement, dass es nur mehr Zeit bedarf. Er lädt die Skeptiker in das Institut ein, um sich selbst ein Bild zu machen, doch nach einigen Schlagabtauschen bringt er den Einwänden nichts mehr entgegen. Erschöpft schaut er mich an. Ich gestehe, dass ich seine Intension dahinter verstehe, er jedoch nicht das ganze Ausmaß bedenkt. „Sag Bescheid, wenn wir fahren. Du musst nicht hierbleiben“, erinnere ich ihn daran, dass der Besuch freiwillig ist. Er hat sein Bestes gegeben und bestätigt mit einem Nicken, dass es Zeit wird.
Mit dem kleinen Wesen auf meinem Arm gehe ich schnurstracks und schnellen Schrittes zur Bibliothek ein paar Straßen weiter. Unwohl blicke ich mich um, ob uns jemand folgt, doch mir ist keiner aufgefallen. Immerhin laufe ich mit einem Hund im Arm herum, der nicht mir gehört und von dem zum jetzigen Zeitpunkt keiner wissen soll. Dort angekommen, verziehen wir uns in die hinterste Ecke, ohne ‚Hallo‘ zu sagen und ich vergewissere mich erneut, ob wir allein sind. Den Kleinen setze ich auf einem Tisch ab und nehme auf dem danebenstehenden Stuhl Platz. Aufgeregt atme ich ein und aus und verschränkte die Arme vor dem Bauch. Wir starren uns eine Weile schweigend an, bis die Fragen nur so aus meinem Mund heraussprudeln. „Wovor hattest du solche Angst? Was war das für eine Brosche?“ Mir schwirrt der Kopf und ich muss mich beherrschen, nicht zu laut zu sprechen. „Wieso höre ich dich in meinen Gedanken? Wer bist du und woher kommst du?“ Ich gestikuliere wild mit den Händen und bin aufgebracht. Mir fallen tausend Fragen ein und mein Herz rast. Mit tiefen Atemzügen versuche ich mich zu beruhigen. Er tapst zögernd zu mir heran und stupst meine Hand mit seiner kleinen Nase an. Im Nu fällt die Anspannung von mir ab und alles fühlt sich besser an. „Das hast du schon mal gemacht“, stelle ich überrascht fest. „Du berührst meine Haut und ich entspanne mich wieder. Ist das eine Art Superkraft?“



Ich nehme mir mein Buch zur Hand und habe seit langen ein, zwei Stunden Zeit zu lesen. Der ‚Mitternachtsmarkt‘ ist nichts für schwache Nerven und ich assoziiere im Moment einiges mit der Geschichte. Der Protagonist muss sich plötzlich in brenzlichen Situationen zurechtfinden, zuvor nie Dagewesenes akzeptieren und in den Alltag integrieren. Zu lesen, wie er es meistert, stimmt mich zuversichtlich.
Marc setzt die Hündin auf dem leeren Behandlungstisch ab und streichelt sanft über ihren Rücken. Ich stelle mir vor, wie sie kommunizieren und besprechen, was im folgenden Schritt passiert. Seine Hand winkt mich heran und greift nach meinem Handschuh, um ihn auszuziehen. Mit der anderen hält er das Halsband fest, um ihre Bewegung zu kontrollieren und zu verhindern, dass sie versucht zu fliehen. Er führt vorsichtig meine Finger an ihr Gesicht, um Aria meinen Körpergeruch anzubieten. Sie schaut mich direkt an, schnuppert zaghaft an den Fingerkuppen und blitzt bei der Berührung kaum merklich rot auf. Mir kam es vor wie ein Schatten. Es dauert nur eine Sekunde, doch das ganze Fell sträubt sich. Alle starren sich mit offenen Mündern an, nur Herr Dr. Biel lacht. Die Vorführung ist zu Ende, ohne dass ich begreife, was geschehen ist. Es werden Hände geschüttelt und die Männer laufen gemeinsam zurück zum Eingang. „Das hat sie bisher nur bei mir gezeigt. Frau Biel wurde gebissen und zwei, drei andere Studentinnen ebenso“, erklärt er leise und krault sie beruhigend hinter dem Ohr. „Was weißt du über sie?“, hake ich vorsichtig nach und lasse Aria dabei nicht aus den Augen. „Sie ist speziell, wie du gesehen hast. Sie sieht aus wie ein Hund, ist aber kein gewöhnlicher. Sie ist leicht wie eine Feder und robust wie ein Stein. Wir untersuchen ihr Blut und das ist genauso eindrucksvoll. Ihr Fell ist widerstandsfähiger als Elefantenhaut und in ihrem Speichel wurde eine Art der Bromelaine entdeckt, die wundheilend wirkt und bisher nur aus Pflanzen gewonnen wurde. Herr Dr. Biel meint, wenn wir ihre DNA knacken, besiegen wir unter Umständen den Krebs.“ Er rechtfertigt sich durch das Wiederholen der bitteren Worte. „Ihre DNA knacken?“, frage ich sichtlich verwirrt und versuche, meinen Gedanken keinen großen Spielraum zu bieten. Aria drückt ihr Köpfchen gegen seine Hand und genießt seine Berührungen. Ihm entgeht ihre Zuneigung ebenso nicht. Ich kann mir vorstellen, dass sie ihm hilft, sich zu entspannen. „Sie in ihre einzelnen Bestandteile sequenzieren und so das Geheimnis zu entschlüsseln.“ Das klingt unkompliziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das alles ist, und vergewissere mich der Information. „Und dazu braucht man nur ihr Blut?“ „Ja, das war aber gar nicht so leicht. Es benötigte drei Mitarbeiter und einen Narkosepfeil, um sie überhaupt zu fassen. Sie wehrte sich mit aller Kraft. Sie kratzte mit ihren Krallen und biss um sich. Ihr Körper wandte sich in deren Händen und ihr Fauchen fuhr mir bis ins Mark. Sie verstand nicht, was geschah und tat mir so leid. Die Männer versuchten ihr Blut abzunehmen, doch die Nadeln zerbrachen oder verletzen sie nur oberflächlich. Ihr Körper kämpfte selbst in der Narkose. Ich kannte sie schon und so versuchte ich mein Glück. Wir bekamen maximal mal eine S-Monovette voll, bevor sich ihr Körper wieder sträubte.“ Traurig schaue ich Aria in die Augen und streichele, ohne abzuwarten, zaghaft ihren Rücken. Aria, hörst du mich? Ich richte meine volle Konzentration auf die Gedanken. Sie erwidert kaum den Blick, doch leckt sanft über die Haut meines Armes. Dein Bruder ist bei mir, wir holen dich hier raus, versuche ich ihr Mut zuzusprechen. Sie richtet sich auf und krabbelt von Marcs Arm rüber auf meinen Unterarm. Er schaut gespannt zu und lässt sie schweigend gewähren. Gleichzeitig notiert er etwas in einen Hefter und beobachtet uns skeptisch. Sie ist noch leichter als Carlos und bildschön. Ihre langen Wimpern hypnotisieren bei jedem Augenaufschlag. Ihr feines, glattes Fell glänzt und schimmert dunkel wie die Nacht. Ich streiche ihr sanft über den Rücken. Sie schmiegt sich vertraut an meinen Körper und lässt die Berührungen zu. Spätestens jetzt weiß ich, dass sie mich versteht. Aria, wir haben einen Plan. Halte durch, alles wird gut, versichere ich ihr. Das plötzliche Öffnen einer Tür lässt uns aufhorchen. Herr Dr. Biel kommt zurück und sein Blick sucht uns hinter der Scheibe. Schnell setze ich Aria wieder auf dem Tisch ab. Er weist auf seine Uhr und anschließend auf mich. Es ist Nachmittag und ich habe längst Feierabend. Ein letztes Mal für heute streichele ich über ihren Rücken und verlasse geräuschlos den Raum. Im Gang hält mich Herr Dr. Biel an meinem Ärmel fest und schaut mir tief in die Augen. Ich will nur weg von ihm, doch bleibe gehorsam stehen. Er braucht es nicht auszusprechen, das magische Wort lautet Verschwiegenheitserklärung. Ich nicke ihm bestätigend zu, ohne ihn direkt anzublicken. Von seiner bloßen Anwesenheit bekomme ich Gänsehaut und laufe zum Empfang.
„Du hast deinen Vertrag gründlich durchgelesen und bist sicher auf einige Klauseln gestoßen, die Fragen aufwerfen. Du bekommst interne Eindrücke und Informationen, für die du eine Verschwiegenheitsklausel unterschrieben hast. Alle Themenbereiche und Experimente, die du hier findest, haben jahrelange Versuchsreihen hinter sich und einen hohen Stellenwert in der Forschung.“ Ich setze ein leichtes, bestätigendes Lächeln auf. Doch ich habe den Vertrag nicht sorgfältig gelesen. Irgendwie habe ich das Mama überlassen und jetzt wird mir auch klar, warum sie so unzufrieden reagiert hat.
Ich war so in den Gedanken vertieft, dass ich wie hypnotisiert mit dem Fahrrad losfuhr, ohne auf mein Umfeld zu achten. Die Tour ging direkt bergauf los und es nieselte. Ich legte kein großes Tempo auf, denn ich schaute mich suchend im Wald um, um sie zu finden. Das Wetter wurde mit jeder Minute unangenehmer und ich zog mir die Kapuze der Regenjacke tief ins Gesicht. Ich hörte die Tropfen laut auf den Stoff klopfen und spürte nichts von außen. Der Regen verschlechterte mittlerweile die Sicht und der Weg wurde rutschig. Mir zog es die Reifen von der Fahrbahn weg und ich kam ins Straucheln. Es blieb mir nichts anderes übrig, als abzusteigen und das Zweirad zu schieben. Ich benötigte jetzt schon viel mehr Zeit als geplant, aber zog es an dem Tag durch. Auf der Karte sah ich vorher einen Spot, an dem ich eine Pause machen wollte. Dort stellte ich mich an einer überdachten Holzbank unter und trocknete mich mit dem Handtuch ab. Dann ließ ich meinen Blick schweifen: Überall Matsch und das Wasser lief den Berg bereits in kleinen Bächen hinab. „Mariell!“, schrie ich, so laut ich konnte, aus purer Verzweiflung. Ich rätselte, wie ich sie bei dem Wetter finden sollte und machte mir große Sorgen. Ich hoffte, dass sie im Trockenen war oder sich rechtzeitig Unterschlupf suchen konnte. Die erste Hälfte der Tour brachte ich mühselig hinter mich und wusste, dass sich der Weg bald gabelte. Deshalb nahm ich all meine Kraft zusammen und stieg wieder auf, um wenigstens bis dorthin zu gelangen. Ich wechselte zwischen Wiese und Wanderweg hin und her, um voranzukommen, und hatte Glück. Der Regen ließ etwas nach und an der Landstraße blickte ich mich um. Da fiel mir ein Auto auf, das in dem Moment die Straße hinab Richtung Nachbarstadt fuhr. Es war ein weißer Caddy, der auf der Rückseite ein Bild von einer Katze trug. Es war nur eine Silhouette, jedoch erkannte ich sie sofort. Darunter war etwas geschrieben, das ich nicht entziffern konnte, doch allein das Bild beschwerte mir ein mulmiges Gefühl in der Magengrube. Ohne darüber nachzudenken, stieg ich auf mein Fahrrad und fuhr hinterher. Ich trat kräftig in die Pedale, um überhaupt zu sehen, wo das Auto hinfuhr, und ließ mich den Berg schnell herabrollen. Ich legte mich wie ein Rennfahrer waghalsig in die Kurven und konzentrierte mich auf die rutschige Fahrbahn. Der Regen prasselte in mein Gesicht und lief am Hals entlang bis unter mein T-Shirt. Meine Hände waren blass vom Festklammern an den Handgriffen. Für einen kurzen Moment verlor ich den Caddy aus den Augen und fuhr mit hohem Tempo an einem Waldweg vorbei, an dem ein Schild stand, welches das gleiche Zeichen trug, wie das auf der Heckscheibe des Autos. Eine Vollbremsung brachte mein Hinterrad zum Schlittern und ich landete im hohen Bogen im Seitengraben. Zum Glück tat ich mir nicht weh, sondern schnappte eilig den Lenker und schob das Fahrrad in die Einfahrt. Von dem Auto war keine Spur zu sehen, doch mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich hier richtig war. Ich fühlte mich wie getrieben. Der Regen nahm wieder zu, und ich versteckte mein Zweirad hinter einem dicken Baum, um es dort stehen zu lassen. Die dichte Baumkrone bot ihm Schutz, und ich schlich mich durch den Wald besser an. Ich schaute über meine Schulter und vergewisserte mich, dass mich keiner sah. Dann nahm ich die Verfolgungstour zu Fuß auf. Anfangs achtete ich darauf, Geräusche zu vermeiden, doch der Regen übertönte alles. Der Blick auf meine billige und durchnässte Uhr zeigte, dass dreißig Minuten vergangen waren, aber ich kam kaum voran. Ich wollte gerade wieder umdrehen, da sah ich, dass der Wagen vor einer Holzhütte parkte. Daneben standen zwei weitere Fahrzeuge, die jedoch nichts mit dem Caddy gemeinsam hatten. Ich versteckte mich hinter einem breiten Baum und beobachtete die Hütte. Es kamen zwei Männer heraus, die wortlos in die dunklen Autos stiegen und wegfuhren. Ich machte mich schmal, um nicht aufzufallen, und scannte die Umgebung ab. Das Haus wollte ich von hinten begutachten und musste dafür tiefer in den Wald hinein. Jetzt achtete ich wieder auf jeden meiner Schritte und schlich, als würde mein Leben davon abhängen. Was sind das für Leute? Der Regen legte mittlerweile sogar noch eine Schippe drauf und es schüttete aus Eimern. Ich schlängelte mich an den Baumstämmen entlang, um deren Schutz zu nutzen, dennoch wurde ich vollkommen durchnässt. Je näher ich an die Hütte herankommen wollte, desto größer wurden die Abstände zwischen den Bäumen. Deshalb zog ich mich zurück ins Dickicht. Ich ließ gerade den Rucksack von der Schulter gleiten, als mich etwas von oben ansprang. Ich wusste nicht, was es war, aber es lag schwer auf mir, zerdrückte meine Gliedmaßen und hielt mich fest am Boden. Ich dachte erst, mich hätte ein umstürzender Baum oder ein großer Ast getroffen, doch dann erkannte ich ihre Tatzen. „Mariell?“, nuschelte ich zwischen zusammengepressten Lippen, während mein Gesicht ins Moos gedrückt wurde. Ich drehte meinen Kopf und flüsterte: „Mariell, bist du es?“ Die Vierbeiner ließen mich los, einer nach dem anderen. Dann richtete ich mich auf und wischte mir die nassen Blätter und den Dreck von der Hose und der Jacke. Es waren mindestens vier Katzen oder Kater und im Dickicht erkannte ich weitere Silhouetten. „Ist Mariell bei euch?“, fragte ich hoffnungsvoll, doch sie ließen mich nicht aus ihrem Blick. Sie zeigten keine Regung und ich traute mich nicht, mich zu bewegen. Philipp?, ertönte ihre Stimme in meinem Kopf, und ich blickte erschrocken auf. Ich wollte aufstehen und in ihre Richtung laufen, da zeigten die anderen Katzen ihre spitzen Zähne und fauchten mich gefährlich an. Ich stolperte sofort zurück und fiel über einen Stamm. Einer der Vierbeiner, ein kräftiger grauer Kater, sprang warnend auf mich zu und hielt mich in Schach, während alle eine Kleinigkeit Wasser auf ihrem Fell andeuteten, war er vollkommen trocken. Dann wurde er unsanft beiseitegeschoben und Mariell landete nach einem Sprung auf meinem Bauch. „Lieber Himmel. Du bist es. Meine Mariell.“ Ich drückte sie heilfroh an mich und setzte mich auf. Dabei ließ ich sie nicht aus meinen Armen. Ich schmiegte den Kopf an sie und küsste erleichtert ihre Stirn. Dann hielt ich sie mit beiden Händen von mir entfernt, zitterte vor Kälte und starrte sie an. „Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Geht es dir gut?“ Mein Blick schaute prüfend an ihr herunter, doch es schien ihr nichts zu fehlen. Während ich einfach nur froh war, sie wiederzuhaben, bemerkte ich etwas, an meinem Hosenbein kitzeln. Ich blickte an meinem Bein hinab und sah, dass der Kater daran schnupperte. Er setzte sich abwartend daneben und starrte mich herausfordernd an. „Hallo. Ich bin Philipp“, stellte ich mich ihm vor. Er schien der Anführer zu sein. Er war größer als die anderen und hatte einen gefährlichen Blick. Sein Fell war dunkel, doch schimmerte grau im Licht. Er hob eine Pfote und zeigte mir seine scharfen, spitzen Krallen als Warnung. Da war er, der Kater im Wolfspelz.
„Warum nennt man sie eigentlich Seelentiere?“, fragte ich eher als Ablenkung. „Die Bezeichnung nimmt einen markanten Platz im Manuskript des Ordens ein.“ Auch hier teilt Jonas gern sein Wissen. „Die Tiere werden auf Grund ihrer Gabe und den heilenden Kräften so genannt. Die Geschichten reichen von der Transformation des Tieres bis zur Seelenverbindung. Sie sollen zudem eins mit der Natur werden können, was die Schwierigkeit, sie zu entdecken unterstreicht.“ Jetzt mischte sich auch Lenz ein. „Und die Regeneration nicht zu vergessen, sie sorgt unter anderem für Langlebigkeit.“ „Zudem hat die Katze ausgeprägtere Sinne“, fügte Lehmann hinzu und erklärte: „Ein raffinierter Geruchssinn, der weiterentwickelte Tastsinn der Schnurrhaare, ihre Psychosomatik und Robustheit ergeben eine ganz neue Spezies.“ In meinen Gedanken formte sich eine fantasievolle Darstellung, die alle Hinweise vereinte und ein Bild eines Monsters ergab. Eine Katze im Wolfspelz könnte man sagen.
Was ist los? „Ich wollte dich etwas fragen, jedoch weiß ich die Antwort selbst nicht.“ Mein Blick wanderte nachdenklich über die Wälder, und ich schaute hinunter zum Strand. „Bis Sonntag kann ich in der Unterkunft bleiben. Es wird Zeit, weiterzuziehen“, erklärte ich meine Unruhe und blickte sie abschätzend an. Das war keine Frage, stellte sie emotionslos fest. „Da hast du recht.“ Mit ihrer Erkenntnis brachte sie mich zum Schmunzeln. „Möchtest du mich begleiten?“ Sie schaute mir tief in die Augen und schenkte mir ein kurzes Nicken. Zufrieden lächelnd aß ich mein Butterbrot und teilte mit ihr ein paar Stück. Ich wusste nicht, wie viele Stunden wir dort verbrachten. Der Ort hatte etwas Magisches und zog uns in seinen Bann. Ich hatte einige Fragen und rutschte unruhig auf meinem Hintern herum – das entging ihr ebenfalls nicht. Was willst du wissen, fragte sie geduldig. „Wusstest du vom Orden und dass er dich sucht?“ Dieser Geheimbund sucht uns schon, seit ich denken kann. Seine Institution ist allgegenwärtig. „Lebtest du bereits eine Weile im Umkreis des Saint Baume Parks?“ Immer mal wieder. Wir Seelenkatzen haben Familie in der Heimat und verbringen die meisten Tage zusammen. Nichtsdestotrotz haben wir Aufträge zu erfüllen. Ich bin nach meiner letzten Mission nicht zurückgegangen und wählte eine Zeit lang das Leben bei den Menschen. Ich bin unaufmerksam geworden und ihr habt mich in einen Hinterhalt gelockt. Damit habe ich nicht gerechnet. „Möchtest du nicht zurück zu deiner Familie?“, fragte ich neugierig. Sie würden mich verstoßen. Ich habe unseren Eid gebrochen und unsere Spezies in Gefahr gebracht. Damit muss ich jetzt leben. Mir klappte die Kinnlade hinunter. Mit dieser Wahrheit hatte ich nicht gerechnet. Sie wurde nicht nur verwundet und starb dabei fast, sondern verlor durch unser Handeln ihre Familie. Und ein Bein. „Es tut mir so leid“, flüsterte ich mitfühlend. Sie sprang von der Mauer und wandte sich zum Gehen. Ich fühlte ihren Schmerz und verspürte ein schlechtes Gewissen. Sie war bei uns Menschen nie frei und kehrte nicht in ihre Heimat zurück. Wo auch immer die war. Ich stand auf und ging ihr eine Weile schweigend nach. Dann schnappte ich sie mir und trug sie, das letzte Stück des Weges zur Unterkunft. Ich rechnete mit einer Schelle, aber sie vergrub ihr Köpfchen traurig an meinem Hals und ließ sich schwerfällig hängen. Ich hielt sie fest, um ihr Schutz zu symbolisieren und ihr ein wenig ihren Schmerz zu entziehen. Wir hatten nur uns, und das wussten wir beide. Was wir daraus machten, lag in unseren Händen. Wir suchten Ablenkung und planten deshalb für den Tag wieder eine Tour Richtung Innenstadt. Anfangs sprachen wir sporadisch miteinander, denn mein Kopf schmerzte, wenn die Unterhaltung an Fahrt aufnahm. Ich lernte zwar, wie ich meine Gedanken, meine Worte und ihre Stimme koordinieren konnte, das nahm jedoch eine ganze Weile in Anspruch. Am Abend zuvor schrieb ich mir Fragen auf, deren Antworten wir heute zusammentragen wollten: Wohin geht es als Nächstes? In ein Dorf oder eine Stadt? Wie kommen wir dorthin? In welchen Ländern hat der Orden seinen Sitz? Ich hoffte sehr, mit ihren Informationen das Ausmaß der Organisation zu verstehen. Ich wollte einfach nur einen Ort finden, an dem wir friedlich leben und diesen jetzigen Zustand beenden konnten. Ich war unheimlich dankbar für die Menschen vor Ort, für ihre Hilfe und ihren Beistand. Für den Schutz des Ortes und die Möglichkeit, mich hier zu sammeln. Ich schöpfte Kraft, sortierte mich und fand wieder einen Lichtblick. Auch wenn ab jetzt alles anders war.



Ich sah ein altes, vergilbtes Manuskript, das bald das zeitliche segnete. Das Papier nahm einen unerwünschten Gelbton an und es fehlte an jeglichen Ecken und Kanten. Es sah nicht so aus, als ob man es öffnen, geschweige denn lesen konnte, eher so, als sei es ein ganzer in sich verschmolzener Papierblock, nur das dieser hier staubte und sich auflöste. Der Einband bestand aus braunem, dunklem Leder und hatte ursprünglich sicher einen anderen Farbton. In der Mitte thronte ein Abdruck einer goldenen Muschel, die der einer Jakobsmuschel ähnlichsah. Ehemals glänzende Verzierungen und ein Schriftband, auf dem man die Buchstaben nicht erkannte. Ich stellte mir beim bloßen Anblick vor, wie das alte Teil stank. Muffiger, alter Geruch, wie in nassen, verlassenen Häusern, die nie frische Luft bekamen. Ich befürchtete, dass beim Öffnen der Vitrine, einem sofort Schimmelsporen in die Nase flogen. Mich fröstelte es bei dem Gedanken daran und drehte mich angeekelt weg. „Und was denkst du?“, wollte Jonas auf dem Rückweg zum Tisch von mir wissen. Ich zuckte unschlüssig mit den Schultern und setzte mich an meinen Platz. „Reichlich alt das Ding“, teilte ich ihn meine Meinung mit, doch ahnte, dass er mir gleich mehr darüber erzählte. „Ich dachte mir, dass dein Vater dir nichts verraten hat, und du dir sicher ein eigenes Bild machen sollst. Ich weiß von meinem Vater, dass du bald mit dem Studium fertig bist und Dr. Biel als Arbeitgeber, eine grandiose Chance wäre,“ teilte er mir stolz mit. „Und außerdem könntest du an einem pharmazeutischen Wirkstoff forschen, der deiner Mutter helfen könnte. Der Orden wäre eine gute Hilfestellung und sobald du mehr weißt, wirst du mich verstehen.“ Doch im Moment begriff ich rein gar nichts.
Du hattest deine Gründe und die dunkle Aura lag schwer auf deinen Schultern. Jetzt ist davon nichts mehr zu sehen. Während die der anderen, die ganze Zeit über schwarz und gefährlich war, strahltest du im Hintergrund unsicher heraus. Deshalb war die Flucht in deine Richtung, meine einzige Chance. Ich muss dieses Leben hinter mir lassen und das solltest du ebenso.
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„König Waldur von Levenheim wird Sie nun empfangen.“ Ganz der Etikette verpflichtet, trat der junge Graf an den Eingang heran und verbeugte sich tief. „Graf Arthur von Rosenborg. Schön, Sie erneut in unserem Hause begrüßen zu dürfen.“ Der König lächelte freundlich und begab sich an seinen Platz am Kopf des Tisches. Der junge Mann folgte ihm und wartete, bis der Bedienstete dem König den Stuhl zurechtgerückt hatte, bevor er sich selbst setzte. „Ihr Gesuch hat mich erreicht und es ist mir eine Ehre, diese Herausforderung anzunehmen“, sprach Arthur formell und ehrlich. „Ich halte sehr große Stücke auf unseren Kutscher. Herr Herbst ist mindestens so lange im Palast, wie mein treuer Freund, der Hofmeister.“ Waldur nickte dem Bediensteten, der sich am Eingang des Zimmers positionierte, kaum merklich zu. „Dennoch werde ich Ihnen zunächst die Situation erläutern und Ihnen die Entscheidung überlassen.“ Der junge Adelige hörte aufmerksam zu und erklärte sein Verständnis des Rätsels. Unterm Strich waren der König und Arthur von Rosenborg sich über die Dringlichkeit, die notwendige Verschwiegenheit und die Risiken der Offenbarung einig. Sie klärten die Vereinbarungen: warum das Rätsel gelöst werden musste, was der Monarch und das Haus bisher unternommen hatten und dass die Königin Magdalena von Levenheim es zu ihren Lebzeiten verschuldet und geduldet hatte. Arthur würde als neuer Berater im Schloss verbleiben, den Prinzessinnen weitestgehend aus dem Weg gehen und dennoch ihre Aktivitäten beobachten. Die Wachen würden weiterhin vor den Fenstern und der Tür positioniert und die Gouvernanten regelmäßig ausgefragt werden. Die Einsparung neuer Schuhe – eine Maßnahme, um mögliche Hinweise zu gewinnen – hatte keinen Erfolg gebracht und widersprach zudem dem angemessenen Erscheinungsbild einer Prinzessin. Der König legte alles offen und setzte dem Grafen eine Frist von zwei Wochen. Sollte der junge Graf in der Zeit bereits etwas erfahren, so würde er dem Monarchen Bericht erstatten. Sein Stand untersagte Waldur von Levenheim Bündnisse auf Basis von persönlichem Belang, da dies mit einer Intrige gleichzusetzen gewesen wäre. Deshalb vergab er die Position des zweiten Beraters nur vorübergehend, ein Schritt, der auf Grund des adeligen Stammbaumes des jungen Mannes, nicht hinterfragt werden würde. So informierte der Monarch die Familie des Herzogs von Rosenborg über einen Spezialauftrag und den Verbleib ihres jüngsten Sohnes. Graf Arthur ließ die angespannte Vertragsverhandlung mit Bravour über sich ergehen und stand dem Unterfangen positiv gegenüber. Auch wenn der König ihn mit strengen Blicken musterte, bewahrte er sein Gesicht und ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. Immerhin durfte er sich im Schloss frei bewegen und musste nur den gemeinsamen familiären Aktivitäten fernbleiben. Ebenso war es ihm untersagt, allein mit einer der Prinzessinnen zu sein – der Anstand verlangte stets die Anwesenheit einer Gouvernante oder Kammerzofe, da andernfalls der Ruf einer Frau binnen Sekunden beschädigt werden konnte. Unternehmungen außerhalb des Palastes wurden gestattet – stets in Begleitung des Kutschers und eines Soldaten, versteht sich. Er versprach sich selbst und dem Herrscher, die privaten Rückzugsorte der Familie zu meiden, die Mädchen zu nichts zu animieren und sich stets an der Seite einer Bediensteten aufzuhalten. Das Vorhaben wurde in einem schriftlichen Vertrag besiegelt, von dem nur der Hofmeister und die beiden Unterzeichner wussten. Der Vertrag wurde in zweifacher Ausführung mit Wachs und königlichem Siegel versehen, und beide Parteien erhielten ein Exemplar. Die Abendstunden gehörten der Familie, deshalb galt es, rechtzeitig das Feld zu räumen. Arthur zog sich wie gewünscht in sein Gästezimmer zurück, wo ihm eine deftige Mahlzeit und Wein serviert wurde. Währenddessen kreisten seine Gedanken in tiefem Nachsinnen. In den folgenden Tagen bemühte sich der Graf, ohne Aufsehen dem Blickfeld der Prinzessinnen zu entgehen. Das Personal verhielt sich ihm gegenüber zurückhaltend, und er musste sich an den neuen Tagesablauf gewöhnen. Die Mädchen kündigten ihre Anwesenheit oft durch ihr Kichern und ihre Lautstärke an. Arthur machte sich mit den Schlossgängen vertraut, erspähte Säulen, hinter denen er sich verbergen konnte, und lernte die Soldaten im Hof kennen. Sie bekamen die Anweisung, sein Umherstreifen zu dulden, und ließen ihn gewähren. Er wanderte durch den Palast wie ein Geist, auf der Suche nach einem verlorenen Schatz. Die Prinzessinnen beobachtete er geschickt aus den Fenstern, durch die Augen anderer oder indem er ihnen unter einem Vorwand folgte. Er schlüpfte in verschiedene Rollen: mal als Botschafter, mal als vornehmer Graf, der er tatsächlich war, und gelegentlich half er dem Gärtner als Gehilfe. Mit Scharfsinn und einem Auge für Details fand er stets Gelegenheit, den Damen näherzukommen. Der Graf wusste irgendwann darüber Bescheid, was den König verärgerte und warum es einen Keil zwischen den König und seinen Kindern trieb. Arthur erkundigte sich sogar bei den ortsansässigen Schustern, ohne selbst das Thema mit dem Schloss in Verbindung zu bringen. Durch Freundlichkeit, zuvorkommendes Benehmen und geschickte Fragen entlockte er seinem Gegenüber ein nützliches Detail.
„Das Bild im Spiegel zu erkennen, ist eine hohe Kunst“, pflegte der Meister zu sagen. Echos Nero verstand die Bedeutung dieser Worte erst, nachdem sein Lehrmeister gestorben war. Mit dessen Tod ging die Gabe des Hauses auf den jungen Mann über, und er wurde im privaten Kreis zeremoniell zum neuen Spiegelmeister ernannt. Von diesem Moment an verlor er seine Vergangenheit, war untrennbar an diese Stadt gebunden und verschrieb sich der Spiegelherstellung – einschließlich der magischen Einflüsse. All dies besiegelte ein mit Blut unterschriebener Vertrag zwischen Meister und Schüler. Seine Aufgabe war fortan nicht mehr nur das Handwerk an sich, sondern auch, den Menschen zu helfen. Dies tat er stets mit Herz und Verstand und blühte vollkommen in seinem neuen Leben auf. Er hatte seine Berufung gefunden, und diese übte er bis heute aus. Hinter vorgehaltener Hand war er für die Dorfbewohner jedoch ein Hexer. Ein zwischenzeitlich alter Mann, der Magie anwandte und deshalb gehängt werden sollte. Vollstreckt wurde diese Grässlichkeit allerdings nicht. Niemand wagte es, das Urteil des Königs infrage zu stellen, denn der Spiegelmeister hatte sich nie etwas zuschulden kommen lassen und nie einer Seele Leid zugefügt. Er betrieb gelegentlich am Wochenende auf dem Stadtmarkt einen Stand und verkaufte dort Spiegel und Accessoires aller Art. Meistens erwarben Gaukler und Reisende etwas bei ihm und trugen seine Werke in ferne Länder. Die Qualität seiner Produkte war außergewöhnlich gut und mit einem modernen Touch des Landes versehen. Wenn er Aufträge für Geschenke erhielt – ob Handspiegel, Spiegelrahmen oder Gemälde – verzierte er sie mit den örtlichen Kulissen oder ließ sich von der botanischen Vielfalt inspirieren. Er malte, schmückte und verschönerte alles, was mit Glas und Spiegeln zu tun hatte. Ein wahrer Meister seiner Zeit und seines Handwerks.
„Es werden Köpfe rollen“, schrie der König und lief in schnellen Schritten durch den Thronsaal. Sein Kopf hochrot, die Nasenflügel hoben und senkten sich mit seinen Atemzügen, bis er auf seinem Thron Platz nahm und endlich Ruhe fand. Die Soldaten schlichen tonlos aus dem Raum und versteckten sich auf den Gängen, während der Hofmeister an des Königs Seite weilte. Keiner sollte es wagen, den Monarchen zu verärgern, denn eine aus der Wut heraus entstandene Entscheidung von ihm konnte der anderen Tod bedeuten. Für dieses Ärgernis waren allerdings seine eigenen Töchter verantwortlich. „Ein weiteres Paar Schuhe können wir uns nicht mehr erlauben“, sprach der Herrscher zornig und stützte seinen Kopf in den Handflächen ab. Dabei rieb er sich verzweifelt die Stirn mit seinen Fingern und volvierte. „Einige Handwerker und Schuster reden“, fügte der Hofmeister demütig flüsternd hinzu und wich vorsichtshalber einen Schritt zurück. „Wie lange geht das schon so?“, brüllte der Kronenträger verärgert. „Mein König. Wir werden gewiss eine Lösung finden.“ Davon wollte der Monarch jedoch nichts wissen und winkte ihn mit der Hand weg. „Lasst mich allein.“ Sein treuer Butler wagte nicht, zu widersprechen.
Der Spiegelmeister war ein geheimnisvoller, betagter Mann, der weder Familie noch Freunde hatte. Sein Lebensinhalt bestand darin, Tag ein Tag aus mit seinen rauen Händen zu arbeiten und Neues zu erschaffen. Kein Stillstand, kein Schwofen – er hatte sich ganz dem Handwerk verschrieben. Er stand auf und holte den besagten Gegenstand aus dem Nebenzimmer. Dann reichte er ihr einen wunderschönen Handspiegel. Dieser war aus edlen Materialien gefertigt. Den elegant geschwungenen Griff verschönerte ein Blumenornament in matten Farben. Daneben wanden sich goldverzierte Ranken bis ganz nach oben und fasste das Spiegelglas spielerisch ein. Filigrane Zeichnungen von Blumen und Blättern, sowie eingebettete Edelsteine schmückten den Rand, und in der Mitte oberhalb und unterhalb des ovalen Glases thronte eine kunstvoll gestaltete Blüte in voller Pracht. Auf der Rückseite zeigte eine meisterhafte Miniaturmalerei die Gänge eines monumentalen Gebäudes, das eindeutig eine Bibliothek darstellte. Es war ein wahrlich bezauberndes Geschenk und von höchster Qualität. Dennoch stellte es die Königin nicht zufrieden. „Werde ich es verstehen?“, fragte sie dann. „Sie werden es akzeptieren müssen.“ Der Spiegelmeister zog abermals eine Nähnadel aus einem in der Nähe liegenden Garn und hielt ihr seine Hand hin. „Ich habe jedoch eine Bedingung:“, unterbrach sie ängstlich das erneute Bündnis der beiden und duldet keine Widerrede, „es muss mit den Pflichten der Prinzessin zu vereinbaren sein.“ „Nun denn.“ Sie hielt ihm ihren Finger der rechten Hand hin, sodass der Meister mit geübten Bewegungen mit der Nadel in ihre Fingerkuppe piksen konnte. Er drückte den herausquellenden Tropfen Blut konzentriert auf die Mitte des Spiegels und sprach leise ein kurzes, ihr unbekanntes Gedicht. Sie konnte sich keines seiner Worte merken und starrte verwundert auf den Gegenstand. Anschließend gab er ihr ein paar Anweisungen für die Nutzung des Handspiegels, reichte der Monarchin ein sauberes Taschentuch für die feine Wunde und ein Leinentuch, in das sie den Spiegel schützend einwickeln konnte. Die beiden trennten sich ohne ein weiteres Wort. Magdalena eilte zurück zum Wagen und blickte sich nicht um. Sie hatte so viele Fragen und saß dennoch schweigend in der Kutsche, um den alten, betagten Mann zu schützen. Herr Herbst, der Kutscher, hatte seine Fahrt pflichtbewusst und ohne Zwischenfälle durchgeführt, obwohl ihm der Schutz der Königin ohne bewaffnete Begleitung anvertraut worden war. Er erfüllte seinen Auftrag. Das Hinterfragen der Notwendigkeit stand ihm nicht zu; trotz allem erfreute er sich an dem königlichen Anblick außerhalb des Palastes. Das Bündnis des Schweigens zwischen ihm und der Königin hatte weiterhin Bestand. Am Schlosseingang veränderte sich jedoch die Situation, denn dort wurde Magdalena von Levenheim von ihrem besorgten Gatten und den Soldaten in Empfang genommen. Er wartete ungeduldig darauf, dass sie ausstieg, und wirkte angespannt. „Meine Teuerste, wo bist du gewesen?“, fragt er aufgebracht. „Ich wollte dir keine Sorgen bereiten, mein Liebster. Ich habe nur ein Geschenk gekauft.“ Sie zollte dem König mit einem Knicks Respekt und schenkte ihm ein aufrichtiges Lächeln. Mit ihren bewusst gewählten Worten blieb sie bei der Wahrheit. Sie hatte ihren Ehemann nie angelogen, und das sollte so bleiben. „Mein Herz“, begann der König und räusperte sich. Er trat einen Schritt zur Seite und gab den Blick auf die hinter ihm stehende Tochter frei. Erst jetzt fiel der Königin Adelheid auf, die beschämt zu Boden blickte. „Hier möchte jemand mit dir reden“, kündigte der König an und gab seiner Ehefrau zum Abschied einen Kuss auf die Wange. Eine Geste, die in strengen adeligen Haushalten nicht vor der Dienerschaft gezeigt wurde, dennoch war es ihm ein Anliegen, seinen Gefühlen ihr gegenüber Ausdruck zu verleihen. Die von Levenheims liebten sich und ließen keinen Moment ungenutzt, das der Welt zu beweisen. „Mutter“, begann die Dreizehnjährige und wischte sich eine Träne aus dem Gesicht. „Schon gut. Lass uns nach oben gehen.“ Die Königin schritt erhobenen Hauptes in die oberste Etage und nahm den direkten Weg zur Bibliothek. Dort schloss sie die Tür hinter ihnen und zog die Prinzessin fest in ihren Arm. Ihre Tochter weinte bitterlich und versuchte, sich zwischen all den Tränen für ihr Benehmen zu entschuldigen. Der König hatte der Ältesten eine Standpauke gehalten, die ihr die Sprache verschlagen hatte. Magdalena konnte sich vorstellen, welche Drohungen ihm dabei über die Lippen gekommen waren. Wenn es um die Zukunft des Reiches und der von Levenheims ging, verstand er zu Recht keinen Spaß und duldete keine Widerrede. Er hielt ihr sehr deutlich vor Augen, was sie ohne den Rückhalt der Familie erwartete. Die Dreizehnjährige war völlig aufgelöst und traute sich nicht, ihre Mutter loszulassen. Magdalena wollte nie, dass ihre Kinder eine schreckliche, eingeengte und langweilige Kindheit haben. Sie erinnerte sich an freudiges, lautes Kinderlachen und gemeinsame Spiele im Garten. Aber die Mädchen wurden erwachsen und das schneller, als der Königin lieb war. „Bitte schickt mich nicht weg. Ich will noch nicht heiraten“, flüsterte Adelheid und fing erneut fürchterlich an zu weinen.
Königin Magdalena von Levenheim kämpfte seit einigen Wochen mit einem zunehmend schlimmer werdenden Husten, der sich durch Medizin erträglich machen ließ, jedoch nicht verschwand. Anfangs kratzte es nur im Hals, und es half, etwas zu trinken. Nach wenigen Tagen schmerzte der Husten, und die Familie begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Adelheid sammelte Kräuter im Garten und stellte einen wohltuenden Sud her; gegen das Leiden ihrer Mutter vermochte sie aber nichts auszurichten. Der König ließ den Palastarzt rufen, der Adelheid zur Seite stehen sollte und stärkere Mittel bereithielt. Die Königin schlief viel und ruhte sich aus. Wenn sie wach war, zog sie sich in den Wintergarten zurück und hatte nur Kraft zum Lesen; andere Aktivitäten blieben ihr verwehrt. Der königliche Arzt konsultierte zusätzlich das hiesige Krankenhaus, die Königin weigerte sich jedoch vehement, den Palast zu verlassen. Nicht einmal das Zureden ihres geliebten Mannes konnte sie umstimmen. „Sollte mich der Himmel holen, so muss er hierherkommen und mich aus meinem Garten verbannen“, scherzte sie mit einem schwachen, mühsam erzwungenen Lächeln. Adelheid beunruhigte der Verlauf der Krankheit. Sie verbrachte unzählige Nächte in der Nationalbibliothek und zog sogar ihre neuen Bekanntschaften zu Rate. Aber auch sie konnten die Erkrankung nicht identifizieren. In der Umgebung und im gesamten Land waren derzeit keine Seuchen bekannt, die ihren Weg in den Palast hätten finden können. Typhus schlossen die hinzugezogenen Ärzte aus, da bei der Königin kein Fieber auftrat. Ihr Husten legte sich auf die Lunge, sie war abgeschlagen und ihre Kräfte schwanden rapide. Ihr Körper war ausgemergelt, obwohl sie Nahrung zu sich nahm. Nach einigen Wochen konnte sie sich kaum noch bewegen. Der Krankheit zum Trotz bewahrte sie ihren Humor und scherzte auf gewohnte Weise: „Ihr erdrückt mich mit eurer Fürsorge und Liebe, deshalb bekomme ich kaum Luft. Ich brauche nur ein wenig Zeit, um zu genesen. Schließlich bin ich nicht mehr die Jüngste.“ Während die Prinzessinnen den Ernst der Lage nicht vollends begriffen, begannen die Bediensteten vor Magdalenas Schlafgemach zu beten. Familienangehörige reisten an, um der Königin beizustehen. König Waldur und seine Angehörigen suchten jeden Tag die Schlosskapelle auf und sprachen zu den Allerheiligen. Ein Pastor hielt die Predigt ab und sorgte für geistliche und emotionale Unterstützung. Die Ältesten durchsuchten jedes Archiv, jede Aufzeichnung und jede Quelle, sogar in ihren Portalwelten, so gefährlich der Weg dorthin auch sein mochte. Doch mehr als Hinweise zu Kräutertees, Alkohole oder leichten Opiumpräparaten konnten sie nicht finden. Der Palastarzt suchte andere Mediziner auf, um die Notwendigkeit eines chirurgischen Eingriffs zu besprechen, sowie Apotheken und Heiler, welche chemische Präparate und pflanzliche Arzneien verkauften. Seine Helfer fuhren zur medizinischen Fakultät der Kopenhagener Universität, um deren Meinung zu möglichen Infektionen abzuwägen. Aber keiner war im Stande, trotz der fortschrittlichen Behandlungsmethoden, rechtzeitig Abhilfe zu schaffen. Selbst bei Badern, Frauenhäusern oder in der Volksmedizin fanden sie keine Mittel, die die Krankheit ihrer Mutter heilen konnte. Der Schlossarzt und seine Gehilfen waren ratlos und versuchten, der Königin die verbleibende Zeit so angenehm wie möglich zu machen. Waldur musste der Wahrheit ins Auge sehen und seine Kinder auf das Schlimmste vorbereiten. Eines Morgens saßen sie, wie in den letzten Wochen, nur zu siebt am Frühstückstisch und die Sorge raubte ihnen den Appetit. „Meine geliebten Mädchen, die Lage ist ernst. Ich bin verzweifelt und weiß nicht, was ich tun soll.“ Ihr Vater schluckte schwer und kämpfte mit den Tränen. Adelheid, die neben ihm saß, ergriff seine Hand und reichte der Schwester zur Linken die andere. Sie alle fassten sich an den Händen und beteten. „Lieber Herr im Himmel, großes Elend ist über uns gekommen. Gib unserer Mutter die Kraft, ihr Kreuz zu tragen. Lass Engel ihre Flügel über sie ausbreiten, damit sie dem Tod entkommt. Ihre Treue wehrt ewig und für immer.“ Mit einem schmerzlichen Amen beendeten sie ihr Gebet. „Wir werden ihr nicht von der Seite weichen, bis der Herr seine Entscheidung getroffen hat.“ Der König stand auf und machte sich auf den Weg zu Magdalenas Zimmer. Die Stille am Esstisch war erdrückend, während die Schwestern stumm vor sich hinstarrten. Nur das gelegentliche Klirren von Besteck, wenn es auf den Tellern abgesetzt wurde, unterbrach die angespannte Atmosphäre. „Wir können doch nicht einfach hier sitzen“, murmelte Fronica und schob ihren Teller von sich weg. Ihre Finger zitterten, als sie sich über die Augen fuhr, um aufkommende Tränen zu verbergen. „Was sollen wir denn tun?“, fragte Carissima leise, ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. Adelheid stützte verzweifelt ihren Kopf in den Händen hab und teilte ihre Hoffnungslosigkeit: „Wir haben alles versucht. Mutter wird trotzdem immer schwächer.“ „Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben“, warf Dorethin ein und sah dabei abwechselnd jede ihrer Schwestern an. „Mutter ist stark. Vielleicht ... vielleicht braucht sie nur noch ein wenig Zeit.“ „Zeit?“ Begonia, die bisher geschwiegen hatte, hob den Kopf. Ihre Augen funkelten vor unterdrückten Tränen, und ihre Stimme war lauter, als sie beabsichtigt hatte. Ihre Finger umschlossen gereizt das Besteck. „Wir haben keine Zeit mehr! Sie wird sterben, und wir tun nichts, außer hier zu sitzen!“ Adelheid erhob sich plötzlich und sah in die Runde. Ihre Augen waren voller Mitgefühl. „Begonia hat recht“, sagte sie ruhig, ihre Stimme schnitt durch die drückende Stille. „Wir können nichts mehr tun, um sie zu retten. Aber wir sollten bei ihr sein. Ihr zeigen, dass sie nicht alleine ist.“ „Ja“, flüsterte Elsbeth. Ihre schlanken Hände legten sich tröstend auf Begonias Fäuste. „Das Mindeste, was wir tun können, ist, für sie da zu sein. Sie hat uns immer gelehrt, dass unsere Familie zusammenhält. Jetzt ist es an uns, das zu zeigen.“ Die Schwestern schwiegen einen Moment, Begonia lockerte ihren Griff und atmete tief ein und aus. Dann standen sie eine nach der anderen auf. Fronica wischte sich über die Augen, während Carissima Dorethins Hand ergriff. Adelheid ging beherzt voran und die Schwestern folgten ihr Hand in Hand. Sie liefen gemeinsam durch die weiten Gänge des Palastes, ihre Schritte leise, aber bestimmt. Keine von ihnen sprach, doch in ihren Blicken lag Entschlossenheit. Als sie das Zimmer ihrer Mutter erreichten, hielten sie einen Moment inne. Adelheid legte die Hand auf die schwere Tür, sah sich noch einmal um und flüsterte: „Lasst uns stark sein – für sie.“ Zwei Tage, die in einer Mischung aus Tränen, Gebete und stiller Verzweiflung vergingen. Jede Stunde schien endlos, bis Magdalena ihre Augen zum letzten Mal schloss. Ein sanftes Lächeln lag auf ihren Lippen, als sie friedlich in den Garten Eden hinübertrat, umgeben von der Liebe ihrer Familie.
Begonia und Carissima standen immer im Schatten ihrer großen Schwester. Das Hauptaugenmerk lag auf Adelheid. Als zukünftige Königin sollte sie den Familiennamen in Ehren weiterführen und eines Tages einen Thronfolger gebären. Sie galt als das Aushängeschild der königlichen Erziehung und musste ein Vorbild für die Regentschaft sein. Auf ihren Schultern lastete der Druck des gesamten Königshauses. Die Zwillinge konnten sich nicht vorstellen, mit Adelheid zu tauschen, und versuchten dennoch, ihr das Leben so einfach wie möglich zu machen. Sie ergänzten sich gegenseitig und schützten ihre Schwester, wo sie nur konnten. Falls Adelheid je einen törichten Fehler beginge oder unerwartet stürbe, müssten die beiden die Bürde einer Königin tragen – ein Schicksal, das sie stets zu vermeiden suchten. Die Schwestern liebten einander, daran bestand kein Zweifel. Aber jede war ein Unikat für sich. Während Adelheid auf Schritt und Tritt Regeln befolgen musste, hatten es die Jüngsten leichter. Trotzdem kannte auch sie nur den Bergpalast und den angrenzenden Wald samt Steilhang und Wachen. Die Schwestern wussten sich zu beschäftigen, und durch das erste Portal der Ältesten, kamen nach und nach mehr Freiheiten in ihr Leben. Adelheid erzählte abends von den Geschichten, die sie gelesen hatte, so war für jede etwas dabei und sorgte für kurzweilige Ablenkung.